Mein Hinweis im mit 66 Personen prominent besetzten Arbeitskreis zum Thema „Wechselmodell“ beim DFGT 2013, dass wir uns wohl daran gewöhnen sollten, den unbestimmten Rechtsbegriff „Kindeswohl“ endlich bestimmen zu müssen, wurde hauptsächlich von den OLG-RichterInnen entschieden abgelehnt: „Um Gottes Willen, nur das nicht – wir verlieren sonst jeden Gestaltungsspielraum!“
Damit ist klar, warum dieser Begriff unbestimmt bleiben soll: Die Gerichte und alle Institutionen und Personen mit Entscheidungsmacht in der familialen Intervention brauchen eine Größe, mit der sie alles und das Gegenteil begründen können.
Interessant wird dies immer dann, wenn in Sachen Kindeswohlgefährdung genau bestimmt werden muss, was eine Kindeswohlgefahr darstellt und was nicht.
Ich nahm schon an Verhandlungen teil, in denen der unangekündigte Entzug des Kindes durch die Mutter auf eine Entfernung von weit über 100 km auf den Prüfstand kam. Und regelmäßig waren es die Damen vom Jugendamt oder eine Verfahrensbeiständin, die feststellten, dass diese strafrechtlich noch immer „legale“ Kindesentziehung zwar eine Eigenmächtigkeit der Mutter mit bedeutenden langjährigen Folgen für das Kind und den Vater darstellt, dass damit aber die Grenze zur Kindeswohlgefährdung noch lange nicht überschritten sei.
In Verhandlungen zur Erörterung einer Kindeswohlgefährdung nach §157 FamFG muss ebenfalls bestimmt werden, welche Handlungen bzw. Unterlassungen eine Kindeswohlgefährdung darstellen und welche nicht.
In einem solchen Antrag für eine Mutter beim Familiengericht vertrat ich die Ansicht, dass die mehrtägige Weigerung des Vaters, einen Armbruch des Sohnes ärztlich untersuchen und versorgen zu lassen, eine eindeutige Kindeswohlgefährdung darstellt.
Der Zwischenfall geschah an einem Mittwoch. Der Sohn stürzte auf dem Grundstück des Vaters durch die schlecht bzw. nicht gesicherten Fangnetze des Trampolins auf den Boden und klagte über Schmerzen. Der Vater meinte, das sei nur eine Verstauchung und meinte: „Hab‘ Dich nicht so!“
Die Mutter hatte am selben Abend Kontakt über Videotelefonie mit Sohn und Vater, hörte sich die Klagen des Kindes an und ermahnte den Vater, dies ärztlich untersuchen zu lassen.
Der Vater entschied aber, dies weder am Donnerstag noch am Freitag zu tun.
Als die Mutter ihren Sohn am Freitag zum Umgang beim Vater abholte, meinte der Vater, wenn es bis Montag nicht besser werden würde, würde er am Montag mit seinem Sohn zum Arzt gehen – das wären 5 Tage nach dem Unfall.
Die Mutter ging noch am selben Abend des 3. Tages nach dem Unfall mit ihrem Sohn zur Notfallaufnahme in die Klinik, wo eine „distale Radiusfraktur“ festgestellt und eine Ruhigstellung durch mehrwöchiges Tragen einer Schiene verordnet wurde.
Im 6-seitigen Vermerk des Familiengerichts zur Verhandlung ist zum Armbruch des Kindes nichts zu lesen, obwohl dies natürlich antragsgemäß Thema war. Stattdessen wird die Verfahrensbeiständin zitiert:
„Generell kann ich sagen, dass Kinder regelmäßig Verletzungen und auch Krankheiten etc. haben. Eltern nehmen erfahrungsgemäß dies auch unterschiedlich wahr, erfahrungsgemäß ist es so, dass Mütter oft mehr besorgt sind als Väter. Dies ist ein subjektives Empfinden.“
Im Beschluss, in dem die Bedenken der Mutter vom Tisch gefegt wurden, ist zu lesen:
„…Die Antragstellerin geschilderten Sachverhalte begründen keine Kindeswohlgefährdung, welche familiengerichtliche Maßnahmen rechtfertigen würden. Dies gilt sowohl für die einzelnen Begebenheiten, als auch für die Gesamtwürdigung der Situation im Haushalt des Vaters.
….
Was den Sturz des Kindes vom Trampolin im November 2019 angeht, wird auch dieser Vorfall vom Antragsgegner nicht in Abrede gestellt. Hier ist auszuführen, dass es bei Kindern im Allgemeinen nicht immer einfach ist zu entscheiden, wann nach einem Sturz ein Arztbesuch erforderlich ist und wann nicht. Es kann nicht als sorgfaltswidrig angesehen werden, wenn ein Elternteil zunächst abwartet, ob die Schmerzen nach einem Sturz anhalten, sich verschlimmern oder abklingen.
Soweit der Kindesvater vorträgt, er habe nur an eine Verstauchung des Armes gedacht, lässt dies nicht auf eine Gleichgültigkeit und eine dadurch resultierende Kindeswohlgefährdung schließen. Im Allgemeinen ist es so, und dies hat auch die Verfahrensbeiständin in ihrer Stellungnahme ausgeführt, dass Elternteile durchaus ein unterschiedliches Empfinden haben können, wann nach einem Sturz ein Arzt aufgesucht werden sollte. Sicherlich ist die Kindesmutter hier etwas mehr besorgt und neigt dazu, eher früher als später einen Arzt aufzusuchen. Dies hat sie dann auch am Umgangswochenende getan. Dies bedeutet nicht, dass der Vater die Verletzung am Arm unversorgt gelassen hätte. Er hat mitgeteilt, dass er an diesem Freitagnachmittag mehrfach vergeblich versucht habe, die Kindesmutter telefonisch zu erreichen, um sich nach dem Befinden des Kindes zu erkundigen. Er hatte der Kindesmutter auch mitgeteilt, dass er zum Arzt gehen werde, wenn sich die Schmerzen nicht bessern würden. Das Gericht hält nach den Stellungnahmen aller Beteiligter und eigener Lebenserfahrung die Reaktion des Vaters durchaus für im Ermessensbereich, auch wenn einzelne Elternteile möglicherweise früher zum Arzt gegangen wären. Das Gericht kann hieraus nicht den Schluss ziehen, dass der Kindesvater sich nicht um die Kinder kümmert und diese sowie das Kindeswohl vernachlässigt.“
In diesem Fall gingen wir in die Beschwerde.
Da ich schon erlebt hatte, dass ein Vater für eine Ohrfeige für den 10-jährigen Sohn, der sein kleines Schwesterchen verprügelt hatte, 3000 Euro zahlen musste, bin ich gespannt, welche Haltung das OLG in diesem Fall einnimmt und wie dehnbar der Begriff „Kindeswohl“ denn nun aus Sicht des OLG ist.