Übersetzungen: Franzjörg Krieg
– SCHLUSSFOLGERUNGEN –
05.+06.09.2024 OSLO
Internationale Forscher und Experten haben sich in Oslo, Norwegen, getroffen, um neue Forschungsergebnisse, Gesetzesreformen und bewährte Praktiken zur Verhinderung der Eltern-Kind-Entfremdung und zur Wiederherstellung der Verbindung zwischen entfremdeten Kindern und guten Eltern zu diskutieren. Dies ist heute eine große Herausforderung für die Gesellschaft.
In den meisten Ländern verlieren 10-30 % aller Kinder den Kontakt zu einem Elternteil. Einige davon aufgrund mangelnder Verantwortung und guter Erziehung, viele jedoch aufgrund Eltern-Kind-Entfremdung oder, wie die WHO es ausdrückt, des „Problems der Eltern-Kind-Beziehung“. Dies kann leichter, mittlerer oder schwerwiegender Natur sein.
Die erste internationale Konferenz zum Thema elterliche Entfremdung fand 2017 in Washington statt, dann 2018 in Stockholm, 2019 in Philadelphia, 2021 in Brüssel, 2023 in Fort Collins, Colorado, und nun dieses Jahr in Oslo mit 250 Teilnehmern aus 20 Ländern.
„Ich hatte ein sehr seltsames Gefühl. Ich saß da und sah sie an, und plötzlich war ich 12 Jahre alt. Ich dachte: ‚Das ist unglaublich – so viele Erwachsene, so viele intelligente Menschen: Richter, Anwälte, Psychologen. Sie nehmen dieses Thema so ernst. Mir wurde ganz warm ums Herz; es war wie ein heilender Moment. Ich konnte ihnen zuhören, wie sie dies aufnahmen, wie sie Verantwortung übernahmen, und ich dachte nur – die 12-jährige Hanna dachte – ‚Wow, das ist erstaunlich, und ich hoffe, dass viele Kinder all dies und das Ergebnis sehen werden.’“
Konferenzteilnehmerin, die als Kind entfremdet wurde
Die Konferenz 2024 wurde von den Teilnehmern als einzigartig, wichtig und beeindruckend bezeichnet. Hier sind einige der wichtigsten Schlussfolgerungen.
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in zahlreichen Fällen von Eltern-Kind-Entfremdung entschieden und erwähnt den Begriff ausdrücklich in seinen Urteilen. Das allein sagt schon eine Menge aus. Der Gerichtshof hat wiederholt betont, dass die Mitgliedsstaaten verpflichtet sind, das Recht auf Familienleben gemäß Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention zu schützen. So ist der Gerichtshof zu dem Schluss gekommen, dass die Staaten gegen ihre Verpflichtungen verstoßen haben, indem sie es versäumt haben, Entscheidungen durchzusetzen, die auf die Wiederherstellung der Beziehung zwischen Eltern und Kindern abzielen. Die Urteile unterstreichen, dass die Staaten Verantwortung übernehmen müssen, indem sie die notwendigen Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der familiären Bindungen ergreifen.
Davíð Þór Björgvinsson (ehemaliger Richter am Menschenrechtsgerichtshof)
erörterte diese Fragen, aber auch die Komplexität des Justizsystems, wenn es um Fälle von Eltern-Kind-Entfremdung geht. Er wies darauf hin, dass die emotionale Trennung zwischen Eltern und Kind mit der Zeit, in der sich die Fälle durch das Rechtssystem ziehen, ein großes Problem darstellen sollte. Es ist daher wichtig, dass die nationalen Regierungen Präventionsmaßnahmen ergreifen.
Geir Kjell Andersland (Rechtsanwalt, Norwegen),
der Vorsitzende des Männerausschusses des norwegischen Parlaments, erörterte in seinem Vortrag, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Fälle von Eltern-Kind-Entfremdung behandelt, insbesondere unter Berücksichtigung von Artikel 8 der Konvention. Er betonte, dass die Regierungen eine doppelte Verantwortung haben: die Familien vor ungerechtfertigten Eingriffen zu schützen, aber auch die Wiedervereinigung von Eltern und Kindern zu erleichtern. Er wies insbesondere darauf hin, dass das Wohl des Kindes zwar an erster Stelle stehe, dies aber nicht das Recht der Eltern beeinträchtigen dürfe, eine Beziehung zu ihren Kindern zu unterhalten. Es besteht eine positive Verantwortung, sowohl den Kindern als auch den Eltern das Menschenrecht auf ein Familienleben zu sichern.
Jesper Lohse (Vorsitzender / MBA, Dänemark)
präsentierte Empfehlungen für Gesetzesreformen auf der Grundlage einer Harvard-Fallanalyse des dänischen Familiengerichtssystems aus einer Führungsperspektive. Eine Analyse, bei der 750 Kinderfälle untersucht wurden, hat zu einigen der weltweit führenden Gesetzesreformen geführt und wurde auch Teil der Europaratsresolution 2079 zur Gleichstellung der Geschlechter. Im Jahr 2024 wurde ein neuer Aktionsplan zur elterlichen Entfremdung für den Zeitraum 2024-2027 vom Parlament auf den Weg gebracht.
Camilla Bernt (Rechtsanwältin, Norwegen)
erörterte die rechtlichen Herausforderungen in Fällen von Eltern-Kind-Entfremdung und die Bedeutung der Entwicklung von Gesetzen und Rechtsmitteln zum Schutz der Rechte von Kindern. Sie wies darauf hin, dass das derzeitige System in Norwegen, wie in vielen anderen Ländern auch, mit großer Unsicherheit zu kämpfen hat und oft nicht über das notwendige Wissen verfügt, um die richtigen Entscheidungen zu treffen, die den Interessen des Kindes am besten dienen. Sie forderte eine verstärkte Ausbildung von Richtern und anderen an diesen Fällen Beteiligten.
William Bernet (Professor für Psychologie, USA)
erörterte die politische Kluft im Bereich der elterlichen Entfremdung. Er wies darauf hin, dass diese Kluft zwischen Befürwortern und Kritikern der Theorien zur elterlichen Entfremdung die Forschung, die Ausbildung und die Intervention behindert hat. Bernet betonte die Bedeutung der Zusammenarbeit mit den Kritikern und stellte fest, dass ein konstruktiver Dialog nicht nur zu einem besseren Verständnis des Phänomens führt, sondern auch Fachleuten aus dem Bereich Recht und psychische Gesundheit hilft, in Familiensachen besser zusammenzuarbeiten.
Philip Marcus (ehemaliger Richter, Israel)
unterbreitete klare Vorschläge für Änderungen bei der Behandlung von Sorgerechtsfällen. Er kritisierte, dass gegensätzliche Seiten in Sorgerechtsstreitigkeiten oft zu mehr Konflikt und Distanz zwischen dem Kind und beiden Elternteilen beitragen. Er forderte Änderungen in der Organisation der Gerichte, bei denen das gemeinsame rechtliche und psychische Sorgerecht die Grundvoraussetzung sein soll, und eine stärkere Betonung interdisziplinärer Teams mit Kenntnissen über die kindliche Entwicklung und die psychische Gesundheit während des gesamten Lebens.
Edward Kruk (Professor für Sozialarbeit, Kanada)
erörterte die Bedeutung eines frühzeitigen Eingreifens in Fällen von Eltern-Kind-Entfremdung. Er wies darauf hin, dass ein frühzeitiges Eingreifen in solchen Fällen der Schlüssel zur Verringerung schädlicher Auswirkungen auf die Kinder ist. Er sagte u. a.: „Elterliche Entfremdung ist wie eine Wunde, die schlecht heilt, wenn sie nicht schnell und systematisch behandelt wird. Wenn wir nicht frühzeitig eingreifen, verfestigt sich das Verhalten, und der Schaden für die Kinder nimmt mit der Zeit zu“.
Marie-France Hirigoyen (promovierte Psychologin, Frankreich)
erörterte die Missverständnisse im Zusammenhang mit der elterlichen Entfremdung, die oft als geschlechtsspezifisches Problem angesehen wird. Sie wies darauf hin, dass elterliche Entfremdung nicht an das Geschlecht gebunden ist und dass sowohl Männer als auch Frauen Täter oder Opfer von Entfremdung sein können. Hirigoyen analysierte anschaulich, wie irreführende Informationen zu diesem Thema zu falschen Vorstellungen sowohl in der Gesellschaft als auch im Rechtssystem führen.
Pehr Granqvist (Professor für Psychologie, Schweden)
betonte, dass Bindungstheorien in Sorgerechtsfällen oft nicht korrekt angewandt werden. In seinem Vortrag „Attachment Goes to Court“ (Bindung geht vor Gericht) erörterte er, dass Bindungsanalysen nicht verwendet werden sollten, um endgültige juristische Entscheidungen über das Sorgerecht zu treffen, sondern die Auswahl von Interventionen leiten sollten, die das Kind und die Familie unterstützen.
Ben Hine (Psychologieprofessor, Vereinigtes Königreich)
präsentierte wichtige Ergebnisse zu entfremdendem Verhalten der Eltern, aus denen hervorging, dass etwa 60 % der Teilnehmer ein solches Verhalten erlebt hatten, das mit schweren psychischen Problemen wie posttraumatischen Belastungsstörungen und Depressionen verbunden ist. Er betonte die Notwendigkeit einer psychologischen Unterstützung für diejenigen, die elterliche Entfremdung erleben und verursachen, sowie gesetzlicher Änderungen, um dieses Verhalten zu erkennen und zu bekämpfen. Je nach Land 10-30 pct. aller Kinder sehen heute keinen ihrer Elternteile. Dies kann auf elterliches Verhalten und mangelnde Verantwortung zurückzuführen sein, aber elterliche Entfremdung ist eine große Herausforderung für Kinder, Familien und Gesellschaften.
Die Weltelternorganisation der PASG hat auf der Konferenz 2024 mehrere wichtige Schlussfolgerungen und Empfehlungen ausgesprochen. Vor allem müssen sich die nationalen Regierungen und Behörden in den meisten Ländern mit den folgenden Leitlinien befassen.
* Neue Gesetzesreformen auf der Grundlage der Europaratsresolution 2079 über Gleichberechtigung und gemeinsame elterliche Verantwortung.
* Programme für frühzeitigen Elternurlaub (Elternzeit für beide Eltern) und Unterstützung für beide Elternteile.
* Prävention gegen Eltern-Kind-Entfremdung durch frühzeitiges Eingreifen.
* Konsequenzen für elterliches Entfremdungsverhalten und Fehlinformationen.
* Berücksichtigung der sozialen und gesundheitlichen Familiengeschichte inkl. Diagnose.
* Kindergespräche, Ansprechpartner und Selbsthilfegruppen.
* Elternselbsthilfegruppen und Rechtsbeistand für beide Elternteile in Situationen von Eltern-Kind-Entfremdung.
* Verstärkte Zusammenarbeit zwischen Fachleuten und Behörden.
* Schulung von Fachleuten in Fragen der Eltern-Kind-Entfremdung und des Kontaktabbruchs im Zusammenhang mit Kindern.
* Programme zur Wiederherstellung der Verbindung zwischen Kindern und guten Eltern.
* Unabhängigkeit von Sozialleistungen und Kinderzeit bei den Eltern.
Das Fehlen von Gesetzesreformen, eine Managementkultur, die keine Verantwortung übernimmt, und fehlende Konsequenzen bei Vorliegen von Eltern-Kind-Entfremdung und Fehlinformationen sind eine zentrale Herausforderung für die Gesellschaft.
Das derzeitige Familienrecht funktioniert in der heutigen Gesellschaft für Kinder und Familien einfach nicht, aber es kann eine Lösung gefunden werden. Es ist möglich, mit guter Führung und moderner Gesetzgebung einen Erfolg für Kinder, Familien und die Gesellschaft zu schaffen.
„Wir leben in einer Welt der geteilten Elternschaft (shared parenting) mit einem Gesetz für Alleinerziehende“.
Jesper Lohse, Nordische Väter