Entnommen der Aktion GENUG TRÄNEN des VAfK
Julian (28)
Ich war vier Jahre alt, als meine Eltern sich trennten. Ich lebte dann bei meinem Vater, meine Mutter sah ich jedes zweite Wochenende und in den Ferien. Das ging eigentlich auch ganz gut. Wir hatten schöne Zeiten miteinander, z.B. tolle Urlaube. Sie unterstützte mich beim Lernen, nahm mich in den Arm, wenn ich es brauchte, war für mich da. Wir besuchten Freunde und meine Großeltern. Ich fühlte mich wohl und freute mich jedes Mal, wenn ich wieder bei ihr war.
Ich merkte aber nach und nach, dass mein Vater damit nicht einverstanden war. Mal war da der abfällige Blick oder ein anderes Mal ein blöder Spruch über meine Mutter, was sie wieder nicht richtiggemacht hätte. Oder dass ich es bei ihm ja viel besser hätte. Vor jedem Besuch bei meiner Mutter war die Stimmung schon zwei, drei Tage vorher gereizt. Wenn ich von ihr zurückkam, gab es kein fröhliches „Hallo“, sondern erst einmal hörte ich, was ich Tolles nur wegen meiner Mutter bei ihm verpasst hätte. Ich musste dann Bericht erstatten, was ich bei ihr gemacht hatte. Egal, was es war, irgendwie hat er es immer verstanden, die Zeit bei meiner Mutter schlecht zu reden.
Meine Mutter würde sich immer in alles einmischen, würde uns nicht loslassen. Er erzählte mir ganz viel, was zwischen ihm und meiner Mutter alles gewesen sei. Ich wollte dies aber gar nicht hören. Er sagte mir, ich müsse das hören, denn nur so könne ich erkennen, was für ein Mensch meine Mutter sei.
Was ich hörte, passte irgendwie nicht zu dem, was ich fühlte und erlebte. Aber warum sollte er lügen? Anfangs widersprach ich ihm noch, irgendwann aber gab ich es auf, es hatte ja sowieso keinen Sinn. Was ich ihm sagen wollte, wollte er nicht hören.
Ich fing dann an, meine Mutter mit anderen Augen zu sehen. Ich fragte sie zu einigen Dingen, die mein Vater mir erzählt hatte. Natürlich leugnete sie, das hatte mir mein Vater vorher schon prophezeit, er kannte sie ja. Er hatte Recht behalten und irgendwie war das ja schon ein Beweis, dass das, was er sagte, auch stimmte. Zumindest glaubte ich das damals – mit jedem Mal ein bisschen mehr.
Mein Vater unterstützte mich in dieser Sichtweise natürlich. Wir wurden immer mehr zu einem Vater-Sohn-Team – das fühlte sich irgendwann toll an. Meine Mutter fing an, immer mehr zu nerven. An den Wochenenden wollte ich auch nicht mehr jedes Mal zu ihr. Wenn ich wieder einmal da war, dann glaubte ich, dass es nicht mehr so schön wie früher war. Ich hatte schließlich den Eindruck, dass sie sich verändert hatte.
Sie fing an, Briefe zu schreiben und Päckchen zu schicken. Nie durfte ich diese alleine aufmachen, immer nur zusammen mit meinem Vater. Er kommentierte ihren Inhalt und machte alles schlecht. Und dann wollte meine Mutter auch noch zu einer meiner Schulaufführungen kommen, auf die ich mich so sehr gefreut hatte. Das ging für meinen Vater überhaupt nicht. Ich durfte also nicht zur Aufführung und war richtig traurig. Nein, eigentlich war ich stinksauer auf meine Mutter, da sie es mir verdorben hatte. Dass es eigentlich mein Vater gewesen ist, das konnte ich damals noch nicht erkennen. Er setzte mich unter Druck, manipulierte mich und schrie mich an, wenn etwas nicht so lief, wie er es wollte. Ich beugte mich. Was hätte ich tun sollen, ich war ja noch ein Kind?!
Auf der anderen Seite verwöhnte er mich, ich bekam alles, was ich wollte, hatte viele Freiheiten. Und sogar eine neue Mutter hatte ich – meine Stiefmutter, die ich natürlich nicht so nennen sollte, denn jetzt war ja sie meine Mutter. Meine „alte“ Mutter sollte ja aus meinem Leben verschwinden. Wenn ich mal mit ihr sprach, sollte ich sie nur noch „Birgit“ nennen.
Aber so oft sprachen wir ja nicht mehr miteinander. Mein Vater ging vor Gericht, damit ich meine Mutter endlich nicht mehr sehen müsse. Was ich zu sagen hatte, wurde mir von meinem Vater und meiner „neuen Mutter“ wochenlang eingetrichtert. Jugendamt, Verfahrensbeistand, Gericht, allen erzählte ich, was mein Vater hören wollte. Ich glaubte dies mittlerweile auch selbst. Trotzdem war da noch eine Stimme in mir, die sagte, dass da etwas nicht stimmt. Es waren immer noch positive Gefühle für meine Mutter da. Tief in mir drin hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich so mit meiner Mutter umgehen und schlimme Dinge über sie erzählen musste. Nur zeigen konnte oder wollte ich das in dem Moment noch nicht. Mich fragte auch niemand danach und um keinen Ärger mit meinem Vater zu bekommen tat ich, was er wollte. Hatte ich eine andere Wahl? Lügen zu erzählen wurde zuhause zu meiner Überlebensstrategie. Meinem Vater gefiel, was ich sagte und damit hatte ich weniger Stress. Ich verlernte aber, was richtig und was falsch war.
Ich war mittlerweile ein Jugendlicher und bekam alles, was ich mir wünschte. Glücklich gemacht hat mich dies aber nicht. Es war eine große Traurigkeit in mir und immer wieder kamen die Erinnerungen an meine Mutter hoch. Während andere aus meiner Klasse feierten und Party machten, lag ich oft alleine zuhause in meinem Zimmer und weinte. Ich lief wie auf Autopilot – immer darauf bedacht, nicht in Konflikt mit meinem Vater zu kommen.
Mein Studium wollte ich unbedingt weit weg von zuhause machen. Es war das erste Mal, dass ich nicht unter Kontrolle meines Vaters stand und mich mit Freunden austauschen konnte. Nach und nach wurde mir bewusst, in welch enger Welt ich in den letzten Jahren gelebt habe.
Bis zur Kontaktaufnahme mit meiner Mutter hat es noch fast zwei weitere Jahre gedauert. Ich hatte einfach ein ungutes Gefühl. Zum einen würde ich bei einem Kontakt mit meiner Mutter meinen Vater, der sich immer um mich gekümmert hat, verraten. Zum anderen waren da noch die negativen Geschichten über meine Mutter. Über diese kamen immer mehr Zweifel in mir hoch. Also nahm ich all meinen Mut zusammen und schrieb meiner Mutter einen Brief. Kurz danach telefonierten wir und trafen uns auch. Es wurden viele weitere Treffen mit meiner Mutter.
Anfangs wusste ich gar nicht, was ich mit ihr sprechen sollte. Ihr ging es, glaube ich, auch so. Irgendwann fing ich an Fragen zu stellen und bekam auch Antworten – nicht nur von ihr, auch von anderen Familienmitgliedern und ehemaligen Freunden. Nach und nach ergab sich ein ganz anderes Bild von meiner Mutter und damit auch von meinem Vater. Meine Kindheit und Jugend entpuppten sich als ein großes Lügengebilde. Ich war ja selbst zu einem perfekten Lügner geworden, weil ich keine andere Möglichkeit gesehen hatte mich zu schützen.
Dies wollte ich ändern. Ich musste für mich die Wahrheit erfahren. Ich fragte also auch meinen Vater, was gewesen sei. Er war einfach nur wütend, beschimpfte mich und war sauer, dass ich wieder Kontakt zu meiner Mutter aufgenommen hatte. Es war wieder so wie in meiner Kindheit. Was mir wichtig war, wurde unterdrückt, ich wurde klein gemacht, hatte zu gehorchen. Ich fiel in ein psychisches Loch, aus dem ich mich nur mit viel Kraft und intensiver therapeutischer Unterstützung wieder befreien konnte. Auch der Kontakt zu meiner Mutter war zwischenzeitlich durch die Eskalation mit meinem Vater wieder in Gefahr.
Meine Mutter und ich haben heute ein gutes und stabiles Verhältnis. Wir mussten viel zusammen aufarbeiten. Dieser Prozess war hart und brachte viele Tränen hervor. Aber es war wichtig für uns beide. Trotzdem fühlt es sich immer noch so an, als ob etwas fehlen würde und die Jahre in denen wir keinen Kontakt hatten, die bekommen wir nicht mehr zurück.
Mit meinem Vater habe ich so gut wie keinen Kontakt mehr. Er hat kein Interesse an mir, seitdem ich Kontakt mit meiner Mutter habe und mich nicht weiter von ihm unterdrücken lasse. Ich schreib ihm zum Geburtstag und zu Weihnachten eine Nachricht oder eine Karte. Zurück kommt fast nie etwas und wenn, dann nichts Positives.
Ich habe in meinem Leben zweimal einen Elternteil verloren. Das prägt mich und meine Therapeutin meint, dass wir viel geschafft haben, aber dennoch Narben in der Seele bleiben. Ich lebe mit ständigen Selbstzweifeln. Es war schwierig für mich ein Selbstwertgefühl zu entwickeln. Bei Freundschaften bin ich unsicher, ob ich mich darauf einlassen soll. Es gibt für mich immer die Gefahr des Verlustschmerzes, wenn die Freundschaften wieder zerbrechen sollten – von einer Beziehung mit einer Freundin einmal ganz zu schweigen. Ich hoffe aber, dass ich irgendwann auch eine „normale“ Beziehung ohne ständige Verlustangst führen kann. Im Moment weiß ich nicht, ob ich Kinder haben möchte. Die Gefahr, dass ihnen dasselbe passiert, ist dann doch zu groß.
Wenn ich heute zurückblicke, dann stelle ich mir die Frage, was wäre ich für ein Mensch geworden, wenn das alles nicht gewesen wäre? Vielleicht würde ich mir nicht so oft selbst im Weg stehen, weniger Schuldgefühle oder Selbstzweifel haben und selbstbewusster sein. Ich würde zwei Eltern haben.
Ich frage mich auch, warum mir niemand geholfen hat? Alle haben einfach nur auf das gehört, was mir eingetrichtert wurde und ich sagen musste. Niemand interessierte sich dafür, wie es mir wirklich ging. Niemand hat die Entfremdung verhindert. Alle schauten nur zu. Das macht mich unheimlich wütend, denn so wurde ich bereits als Kind zum Schuldigen gemacht. Niemand interessierte sich dafür, wie es mir wirklich ging. Niemand hat die Entfremdung verhindert. Ich war es der sagte, dass ich meine Mutter nicht mehr sehen wollte. Ich war es, der ihr all die schlimmen Vorwürfe machte. Nur konnte ich als Kind nicht erkennen, dass ich von meinem Vater belogen und instrumentalisiert wurde!
Mit dieser Schuld werde ich mein ganzes Leben lang leben müssen, auch wenn mir meine Mutter keine Vorwürfe macht.
Lydia (48)
Ich war eine entfremdende Mutter. Heute nennt man das wohl so. Es ist schon ein paar Jahre her, dass ich meinen Töchtern ihren Vater nahm. Meine Zwillingstöchter waren damals acht Jahre alt. Jetzt sind sie 25 Jahre.
Bei den Streitigkeiten um Sorgerecht und Umgang wusste ich mir nicht anders zu helfen. Mein Mann hatte eine neue Freundin und es hat einfach so weh getan. Er führte auf einmal das Leben, dass er doch eigentlich mit mir hätte haben sollen. Ich kann aber nicht sagen, dass es in erster Linie Rache war. Es war Wut, Enttäuschung und ganz viel Traurigkeit. Mein ganzes Leben schien mir zerstört, mein Lebensentwurf, unsere gemeinsamen Kinder und das schöne Zuhause, das wir ihnen geschaffen hatten. Wir waren zwar sehr unterschiedlich, hatten aber selten Streit, schon gar nicht vor den Kindern.
Mir wurde der Boden unter den Füßen weggezogen. Und das einzige Mittel, mich wieder aufzubauen schien mir, der ganzen Welt zu beweisen, was für ein Fiesling dieser Mann ist. Ich wollte alles alleine stemmen. Ich alleine, mit meinen Kindern. Er hatte mich verlassen, dann musste er auch damit leben, seine Kinder zu verlieren. Ich war der Meinung: sie haben es sowieso viel besser bei mir.
Meine Familie hat mich unterstützt, leider auch darin, dass „dieser Schuft seine Kinder nie wieder sieht“, wie mein Vater bei jeder Gelegenheit betonte. Zum Glück hatte ich tolle Kolleginnen, die mich in diesem Vorgehen als Mutter auch unterstützt haben – schließlich waren es ja meine Kinder. Bei den Lehrerinnen der Kinder und den Mitarbeiterinnen des Jugendamts habe ich viel Verständnis und Unterstützung für meine Haltung gefunden. Trotzdem hat mein Ex-Mann durchgesetzt, dass die Kinder jedes zweite Wochenende bei ihm waren. Das tat weh: Er wurde wieder Vater und meine Mädchen fanden ihren neuen Bruder süß. Und das sagten sie mir auch noch jedes Mal. Ich dachte oft, hoffentlich ist die neue Freundin nett zu ihnen, damit sie nicht leiden. Gleichzeitig wünschte ich, dass sie eine Hexe sei, damit sie wieder zu mir wollten.
Am Anfang habe ich während der ganzen Besuchszeit auf das Telefon gestarrt, in der Hoffnung, dass sie nach Hause wollten. Es hat nie geklingelt. Meinen Töchtern aber ging es bei ihrem Vater zunehmend schlechter. Zumindest dachte ich das damals, ohne zu erkennen, dass ich selbst der Grund dafür gewesen bin. Ich habe meinen Töchtern die Beziehung zu ihrem Vater zur Hölle gemacht. Irgendwann wollten sie nicht mehr zu ihrem Vater und ich war in meiner Haltung bestätigt. Der Kontakt zu ihm brach ab, als sie 11 Jahre alt waren.
Ich habe mit Hilfe einer Therapeutin erkannt, was mich belastete und was ich mit meinen Töchtern und meinem Ex-Mann gemacht habe. Das hat sich nicht gut angefühlt, ich wollte es lange verleugnen und habe mich geschämt. Ich habe versucht, mir irgendwelche Begründungen auszudenken, dass es ja irgendwie doch in Ordnung gewesen wäre. Nein, das war es nicht, aber es brauchte Zeit, dass ich mir das selbst eingestehen konnte. Erst als die Zwillinge 16 Jahre alt waren, konnte ich es zulassen, dass meine Töchter wieder Kontakt zu ihrem Vater aufnahmen.
Vor 13 Jahren lernte ich meinen jetzigen Lebenspartner kennen. Er war auch geschieden und hat seine Kinder regelmäßig gesehen. Er hatte große Probleme mit meinem Verhalten, hat mir den Spiegel vorgehalten. Er hat mir gesagt, wie er sich fühlen würde, wenn seine Ex-Frau so mit den Kindern umgehen würde – den Kindern, die sich bei uns fröhlich und entspannt in unser Familienleben einfügten, wenn sie bei uns waren. Fast wäre unsere Beziehung daran zerbrochen, aber mein neues Leben mit ihm war letztendlich zu wertvoll – vor allem der Frieden für meine Töchter. Den haben sie nach vielen Jahren zum Glück doch noch gefunden und sich auch wirklich verdient.
Beide Beispiele sind „echte“ Schicksale, die mit Namen und Adressen intern bekannt sind.