Fallskizze
Der 12-jährige Tim lebt bei seiner alleinerziehenden Mutter, der es gelang, den Vater weitgehend zu marginalisieren. Inzwischen besucht Tim seinen Vater nur noch, um abzukassieren.
Mit seinem Freund zockt er seit über einem Jahr Computerspiele online und macht dabei die Nächte durch.
Seit dem Start des neuen Schuljahres nach den Sommerferien, die er zu 90% seiner Wachzeit am Computer verbrachte, weigert er sich, morgens aufzustehen und zur Schule zu gehen.
Außerdem verweigert er schon seit vielen Monaten jede Mithilfe im Haushalt und genießt das Hotel Mama rundum.
Der Vater erkannte diese Entwicklung schon vor einigen Monaten als Kindeswohlgefährdung (KWG) und initiierte eine Verhandlung nach §157 FamFG zur Erörterung einer KWG. Sein Antrag wurde abgewiesen.
Er geht in die Beschwerde.
Nehmen wir einmal an, die im Folgenden von mir zitierte Entscheidung des OLG Koblenz vom 14.10.2025 wäre zu diesem Umstand ergangen.
OLG Koblenz vom 14.10.2025
Zitat in Auszügen
Allein die Überwindung eines stark ausgeprägten konstanten Kindeswillens stellt nämlich regelmäßig eine Kindeswohlgefährdung dar
(vgl. Senat, st. Rspr., zuletzt u.a. Beschluss vom 14. April 2025 – 9 UF 134/25 -; Beschluss vom 20. Januar 2025 – 9 UF 566/24 -; Beschluss vom 17. Juli 2024 – 9 UF 315/23 -; Beschluss vom 7. Mai 2024 – 9 UF 508/23 -; Beschlüsse vom 24. April 2024 – 9 UF 371/23 – und – 9 UF 368/23 -; OLG Schleswig, FamRZ 2019, 48, 49; 453, 455 f.; OLG Koblenz, Beschluss vom 7. Dezember 2017 – 13 UF 562/17 -, juris, Rdnr. 26 f.; OLG Hamm, Beschluss vom 6. Juni 2016 – II-4 UF 186/15 -, juris, Rdnr. 50; Beschluss vom 17. Februar 2010 – II-8 UF 211/09 -, juris, Rdnr. 20 f.; OLG Nürnberg, Beschluss vom 20. April 2016 – 7 UF 270/16 -, juris, Rdnr. 186; OLG Brandenburg, Beschluss vom 24. März 2016 – 9 UF 132/15 -, juris, Rdnr. 26; Erman-Döll, BGB, 17. Aufl. 2023, § 1666 BGB, Rdnr. 6a, m.w.N.).
Die gerichtliche Lösung eines jeden Konflikts zwischen oder mit den Eltern darf nämlich nicht nur auf das Wohl des Kindes ausgerichtet sein, sondern muss dieses vielmehr auch in seiner Individualität als Grundrechtsträger berücksichtigen
(vgl. Senat, a.a.O.; Beschluss vom 20. August 2018 – 9 UF 247/18 -, juris, Rdnr. 21 = ZKJ 2019, 181, 183; BVerfG, BVerfG, Urteil vom 27. Juni 2008 – 1 BvR 311/08 -, BeckRS 2008, 39043, Rdnr. 31; OLG Hamm, Beschluss vom 17. Oktober 2011 – 8 UF 176/11 -, juris, Rdnr. 34).
Denn die zu treffende gerichtliche Entscheidung nimmt regelmäßig entscheidenden Einfluss auf das weitere Leben des Kindes und betrifft es daher unmittelbar
(vgl. Senat, a.a.O.; BVerfG, a.a.O.; OLG Hamm, a.a.O.).
Zu solcher Berücksichtigung des Kindes als Träger eigener Grundrechte gehört, dass der vom Kind aufgrund seines persönlichen Empfindens und seiner eigenen Meinung geäußerte Wille als Ausübung seines Rechts auf Selbstbestimmung bei der gerichtlichen Entscheidung hinreichend Berücksichtigung findet
(vgl. Senat, st. Rspr., zuletzt u.a. Beschluss vom 14. April 2025 – 9 UF 134/25 -; Beschluss vom 20. Januar 2025 – 9 UF 566/24 -; Beschluss vom 17. Juli 2024 – 9 UF 315/23 -; Beschluss vom 7. Mai 2024 – 9 UF 508/23 -; Beschlüsse vom 24. April 2024 – 9 UF 371/23 – und – 9 UF 368/23 -; BVerfG, a.a.O.; OLG Saarbrücken, Beschluss vom 31. Mai 2012 – 6 UF 20/12 -, BeckRS 2014, 03229).
Denn die eigene Willensbildung ist Ausdruck der Individualität und Persönlichkeit des Kindes, die ihrerseits dem grundrechtlichen Schutz der Art. 1 und 2 GG unterliegen
(vgl. Senat, a.a.O.; Beschluss vom 19. Februar 2018 – 9 UF 704/17 -; OLG Koblenz, FamRZ 2014, 2010, 2011; Beschluss vom 25. Juli 2013 – 13 UF 200/13 -, BeckRS 2015, 01408, Rdnr. 7; OLG Brandenburg, NJW-RR 2010, 301, 301; OLG Hamburg, FamRZ 2008, 1372, 1373).
Zur Persönlichkeitsentwicklung gehört auch, dass der wachsenden Fähigkeit eines Kindes zu eigener Willensbildung und selbstständigem Handeln Rechnung getragen wird, das Kind dies erfährt und sich so zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit entwickeln kann
(vgl. Senat, a.a.O.; BVerfG, Urteil vom 27. Juni 2008 – 1 BvR 311/08 -, BeckRS 2008, 39043, Rdnr. 32, m.w.N.; OLG Koblenz, a.a.O.).
Hat der Kindeswille bei einem Kleinkind noch eher geringes Gewicht, weil das Kind noch nicht in der Lage ist, sich einen eigenen Willen zu bilden, so kommt ihm mit zunehmendem Alter und Einsichtsfähigkeit des Kindes vermehrt Bedeutung zu
(vgl. Senat, st. Rspr., zuletzt u.a. Beschluss vom 14. April 2025 – 9 UF 134/25 -; Beschluss vom 20. Januar 2025 – 9 UF 566/24 -; Beschluss vom 17. Juli 2024 – 9 UF 315/23 -; Beschluss vom 7. Mai 2024 – 9 UF 508/23 -; Beschlüsse vom 24. April 2024 – 9 UF 371/23 – und – 9 UF 368/23 -; BVerfG, a.a.O., Rdnr. 32, m.w.N.; OLG Saarbrücken, a.a.O.; NJW-RR 2011, 436, 437).
Insoweit ist bei Kindern ab dem 12. Lebensjahr in der Regel davon auszugehen, dass sie die Bedeutung der entsprechenden Rechte verstehen und ihr Wille daher beachtlich ist
(vgl. Senat, Beschluss vom 14. April 2025 – 9 UF 134/25 -; Beschluss vom 20. Januar 2025 – 9 UF 566/24 -; Beschluss vom 17. Juli 2024 – 9 UF 315/23 -; Beschluss vom 7. Mai 2024 – 9 UF 508/23 -; Beschlüsse vom 24. April 2024 – 9 UF 371/23 – und – 9 UF 368/23 -; Beschluss vom 2. März 2023 – 9 UF 352/22 -; Beschluss vom 12. Dezember 2022 – 9 UF 546/22 -; Beschluss vom 23. September 2022 – 9 UF 352/22 -; Beschluss vom 24. August 2020 – 9 UF 366/20 -; Beschluss vom 19. Februar 2018 – 9 UF 704/17 -, juris, Rdnr. 6; OLG Brandenburg, NJW-RR 2010, 301, 301; OLG Hamburg, FamRZ 2008, 1372, 1373, jew. m.w.N.).
Selbst bei einem 11½ Jahre alten Kind bestehen im Grundsatz keine Zweifel daran, dass es nach Alter und Reife in der Lage ist, einen eigenen und selbstbestimmten Willen über xxx zu äußern
(vgl. Senat, Beschluss vom 14. April 2025 – 9 UF 134/25 -; Beschluss vom 20. Januar 2025 – 9 UF 566/24 -; Beschluss vom 17. Juli 2024 – 9 UF 315/23 -; VerfG Brandenburg, Beschluss vom 24. Januar 2014 – VfGBbg 13/13 -, BeckRS 2014, 47360).
Der Meinungsbildung eines Kindes, welches das 14. Lebensjahr bereits vollendet hat, kommt dann sogar eine verfahrensrechtlich zu beachtende Bedeutung zu, was in §§ 60, 164 Satz 1 FamFG aufgrund des dort geregelten bzw. in Bezug genommenen Beschwerderechts deutlich wird
(vgl. Senat, Beschluss vom 14. April 2025 – 9 UF 134/25 -; Beschluss vom 20. Januar 2025 – 9 UF 566/24 -; Beschluss vom 17. Juli 2024 – 9 UF 315/23 -; Beschluss vom 7. Mai 2024 – 9 UF 508/23 -; Beschlüsse vom 24. April 2024 – 9 UF 371/23 – und – 9 UF 368/23 -; Beschluss vom 2. März 2023 – 9 UF 352/22 -; Beschluss vom 12. Dezember 2022 – 9 UF 546/22 -; Beschluss vom 23. September 2022 – 9 UF 352/22 -; Beschluss vom 24. August 2020 – 9 UF 366/20 -; Beschluss vom 19. Februar 2018 – 9 UF 704/17 -, juris, Rdnr. 6; OLG Hamburg, FamRZ 2008, 1372, 1373).
Jedenfalls ab diesem Alter ist daher eine mit dem Ziel der Beschwerde in Widerspruch stehende Willenshaltung des Kindes zumindest sehr ernsthaft mit zu berücksichtigen, wenn für diese – wie hier – subjektiv verständliche Beweggründe vorgebracht werden
(vgl. Senat, a.a.O., BVerfG, Beschluss vom 13. Juli 2005 – 1 BvR 1245/05 -, BeckRS 2007, 24151, Rdnr. 10; OLG Saarbrücken, NJW-RR 2011, 436, 437; OLG Brandenburg, NJW-RR 2010, 301, 301).
Nur dadurch, dass der wachsenden Fähigkeit eines Kindes zu eigener Willensbildung und selbstständigem Handeln Rechnung getragen wird, kann das auch mit dem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG verfolgte Ziel, dass ein Kind sich durch Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit entwickeln kann, erreicht werden
(vgl. Senat, st. Rspr., zuletzt u.a. Beschluss vom 14. April 2025 – 9 UF 134/25 -; Beschluss vom 20. Januar 2025 – 9 UF 566/24 -; Beschluss vom 17. Juli 2024 – 9 UF 315/23 -; Beschluss vom 7. Mai 2024 – 9 UF 508/23 -; Beschlüsse vom 24. April 2024 – 9 UF 371/23 – und – 9 UF 368/23 -; BVerfG, a.a.O., Rdnr. 32, m.w.N.; OLG Saarbrücken, NJW-RR 2011, 436, 437).
Des Weiteren gilt es zu beachten, dass etwaige gegen den ernsthaften Widerstand des Kindes getroffene Entscheidungen durch die Erfahrung einer Missachtung der eigenen Persönlichkeit bei dem Kind größeren Schaden als Nutzen für die Entwicklung des Kindes verursachen können
(vgl. insoweit auch Senat, a.a.O.; Beschluss vom 19. Februar 2018 – 9 UF 704/17 -, juris, Rdnr. 7; BVerfG, Beschluss vom 13. Juli 2005 – 1 BvR 1245/05 -, BeckRS 2007, 24151, Rdnr. 10; OLG Koblenz, Beschluss vom 25. Juli 2013 – 13 UF 200/13 -, BeckRS 2015, 01408, Rdnr. 8, m.w.N.; FamRZ 2014, 2010, 2011; OLG Saarbrücken, a.a.O.; OLG Brandenburg, NJW-RR 2010, 301, 301; Gsell/Krüger/Lorenz/Reymann- Fuchs, beck-online.GROSSKOMMENTAR, Stand: 1. Juli 2025, § 1671, Rdnr. 298).
Bei alledem kommt es im Übrigen – hierauf sei nur der Vollständigkeit vorsorglich hingewiesen – nicht entscheidend darauf an, ob der in Rede stehende Kindeswille durch eine ungewollte oder gar durch eine gezielte Beeinflussung entwickelt worden ist, da ein Kind nicht für die Fehler seiner Eltern oder Dritter „bestraft“ werden darf
(vgl. Senat, st. Rspr., zuletzt u.a. Beschluss vom 14. April 2025 – 9 UF 134/25 -; Beschluss vom 20. Januar 2025 – 9 UF 566/24 -;Beschluss vom 17. Juli 2024 – 9 UF 315/23 -; Beschluss vom 7. Mai 2024 – 9 UF 508/23 -; Beschlüsse vom 24. April 2024 – 9 UF 371/23 – und – 9 UF 368/23 -; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 22. Januar 2019 – 20 UF 130/18 -, BeckRS 2019, 800, Rdnr. 47; OLG Brandenburg, a.a.O., 302, m.w.N.; Gsell/Krüger/Lorenz/Reymann-Fuchs, a.a.O.).
Des Weiteren macht es für die Entstehung des Schadens für die Entwicklung des Kindes keinen Unterschied, ob es sich bei dem missachteten Kindeswillen um einen autonomen oder um einen – zumindest auch – unter Beeinflussung gebildeten Willen des betroffenen Kindes handelt
(vgl. Senat, a.a.O.; OLG Koblenz, FamRZ 2014, 2010, 2011; Gsell/Krüger/Lorenz/Rey- mann-Fuchs, a.a.O., m.w.N.; Castellanos, Psychologische Sachverständigengutachten im Familienrecht, 4. Aufl. 2024, Rdnr. 236 f.).
Es wird deutlich, dass das Kind Tim zwar seinen freien Willen äußert, dass dieser Wille aber durchaus als selbstgefährdend eingestuft werden muss – was aber vom OLG nicht im Ansatz erkannt werden will.
Warum ist dies im Rahmen des von mir oben skizzierten Beispiels durchaus evident, aber bei solch bedeutenden Entscheidungen wie die über grundlegende Basisbeziehungen, z.B. diejenige zwischen Eltern und Kind, nicht?
Darf ein Kind bezüglich seiner Basisbeziehungen selbstgefährdend handeln?
Und ist es richtig, wenn die Professionen das unterstützen?
Darf die Sicherung des politisch-ideologisch gesetzten Residenzmodells juristisch so weit gehen – insbesondere dann, wenn die oberste Maxime das Kindeswohl darstellt?
Was bedeutet dann die folgende Mail an den Vater?
Hallo Herr (Vater),
Ich möchte Sie bitten, Ihrer Tochter kein Geschenk zu schicken, da sie momentan jegliche Kontaktaufnahme ihrerseits ablehnt. Lesen Sie doch hierzu bitte einmal den Beschluss des OLG Koblenz vom 14.10.2025, der deutlich macht, welche Wirkung es auf Kinder hat, wenn sie nicht ernstgenommen werden.
Jugendamt