Langzeitfolgen des Versagens staatlicher Trennungsinstitutionen
Unter dieser Überschrift steht ein Unterfangen von mir, das nach über 20 Jahren Arbeit die Summe aller meiner Erfahrungen zusammenführt.
Ich habe über 3000 Elternteile beraten. Aus dieser Arbeit resultieren viele Kontakte, die ich nutzen möchte, Daten zu eben diesen Langzeitfolgen zu erheben.
Ein drastisches Beispiel möchte ich hier vorstellen:
Werner kam im Oktober 2007 zu mir. Seit der Trennung von der Mutter von Tom arbeitete er mit Rechtsanwälten – bereits als Tom noch ein Baby war. Die Gründe der Trennung waren für Werner Provokationen und unkontrollierte Wutausbrüche seiner Frau. Ihre mit in die Ehe gebrachte 16-jährige Tochter züchtigte sie gewalttätig mit einem Gürtel. Werner nahm in dieser Zeit psychologische Hilfe in Anspruch. Ihre Tochter kümmerte sich intensiv um Tom und verließ die Mutter in dessen Grundschulalter. Ein zweites Gutachten vom 02.10.2007 erwähnte nebenbei die Streitereien zwischen Mutter und Kind. Obwohl Defizite in der Erziehung bei der Mutter bekannt waren, entschied die Gutachterin, Tom bei seiner Mutter zu belassen und er erhielt nur den „Standardumgang“ mit seinem Vater. Unbekannt blieben allen Entscheidungsparteien die vom Vermieter veranlassten Polizeieinsätze auf Grund der gewalttägigen lauten Auseinandersetzungen des Kindes mit seiner Mutter.
Die psychische Gewalt, die die Mutter auf das Kleinkind ausgeübt hatte, wurde vom Sohn wieder in Form von körperlicher Gewalt an die Mutter zurückgegeben. Von einem Suizidversuch des Kindes in diesen Jahren mit Schlaftabletten und ärztlicher Reanimation erfuhr der Vater erst im Frühjahr 2024. Tom hatte damals bereits mit mehreren Psychologen Kontakt, ohne dass der Vater informiert wurde. Ein weiterer von der Mutter kontaktierter Kinderpsychologe lehnte Tom im Vorschulalter als Patient ab und erst dieser informierte den Vater. Tom war durch das symbiotische Verhalten der Mutter parentifiziert: Nicht die Mutter war für das Wohlergehen von Tom verantwortlich, sondern das Kind tröstete und beschützte die Mutter.
Ein afrikanisches Sprichwort lautet sinngemäß, dass zur Erziehung eines Kindes ein ganzes Dorf verantwortlich sein müsse und es schließt strittige Eltern mit ein. Dieser Prozess dauert mehrere Jahre. Das deutsche „Dorf“ besteht aus Gericht, Polizei, Jugendamt, Ärzten, Psychologen, Heimen und einem unqualifizierten parteiischen Freundes- und Familienkreis.
Was ergab sich im vorliegenden Fall?
Ein vom Vater veranlasstes psychologisches Gutachten aus den Prozessakten bescheinigte der Mutter das Borderline-Syndrom. Es wurde vom Gericht ignoriert. Früher wurde die Mutter vom Gericht jedoch darauf hingewiesen, dass ein Kind von vier Jahren nicht mehr gestillt werden muss und Übernachtungen beim Vater damit nicht verhindert werden sollten. Nie wurde argumentiert, dass das Kind den Kontakt zum Vater bräuchte, sondern dass der Vater ein Recht darauf hätte. Selbstverständlich führte der Vater ein Umgangsbuch, zu dem ihm das Gericht drängte. Und zu Verhandlungsbeginn kam die Frage: „Haben Sie auch den Unterhalt bezahlt? Das ist wichtig!“ D.h., das Wohl des Kindes wurde allein vom finanziellen Wohl der Mutter abhängig gemacht.
Auf Initiative des Vaters wurde eine Moderation beim Jugendamt (JA) begonnen. Der Moderator des JA unterstützte einseitig die Mutter und bestätigte später diese Manipulation auch dem Vater.
Gegen Ende der Grundschulzeit und nach Auffälligkeiten von Tom in der Schule akzeptierte das JA einen Betreuer. Dieser sehr kompetente Psychologe gab nach einigen Monaten auf. Für Tom war es weitgehend zu spät. Für ihn begann eine leidvolle Odyssee, eine griechische Tragödie. Unterstützt durch das JA beschlossen die Eltern, ihn vorübergehend in ein Heim zu geben. Die Mutter gab ihm heimlich verbotene Zigaretten mit, was mit zum Abbruch führte.
Auf einem Drogenumschlagsplatz der Kleinstadt, dem Schulhof einer Grundschule, fand der erste Kontakt von Tom mit Suchtmitteln statt. In einer Reha kamen erste Kontakte mit schweren Drogen und Kriminalität hinzu.
Nach seinem 18. Geburtstag blieb Tom bei seiner Mutter, die alle Gewalttätigkeiten gegen sie hinnahm. Nach einer weiteren Reha lehnte Tom den mit dem Vater gemeinsam organisierten Einzug in eine betreute WG ab und ging zur Mutter zurück. Vorschläge des Vaters über ein schulisches und berufliches Fortkommen wurden von seiner Mutter abgelehnt. Zum schlechten Vater sollte er nicht mehr gehen. Die Mutter übernahm seine behördlichen Aufgaben und schloss ihn weitgehend davon aus. Tom wurde zur Unselbständigkeit gedrängt.
Mehrere Jahre verbrachte er ausschließlich in einer Abendschule, schlief über den Tag und nahm Drogen. Verschiedene unqualifizierte, auch ausbeuterische Beschäftigungen sowie eine Lehrstelle, die er abbrach, erlaubten für ca. zwei Jahre ein annähernd normales Leben. Neben auch stressfreien Zeiten mit seiner Mutter gab es häufig Gewaltexzesse mit ihr sowie ihrem Lebenspartner. Die Mutter entpuppte sich als Verschwörungstheoretikerin und „müllte“ ihn mit Fake-News über WhatsApp ein. Zu seinem Vater, der ihn bis dahin nur sporadisch sah und vieles ahnte, suchte er ab Mitte 2023 mehr Kontakt. Zögerlich und einmal impulsiv öffnete sich Tom seinem Vater.
Ende 2023 drohte er mit Suizid und nach mehreren Einsätzen der Polizei kam er zum Vater. Unter Drogen sagte er immer wieder, dass er seine Mutter umbringen will. Tom blockierte alle Verbindungen zu seiner Mutter auf dem Handy. Die Mutter schrieb dem Vater, dass Tom nicht mehr bei ihr sein könne und zu ihm müsse. Tom wurde, nach kurzfristigen Aufenthalten in einer Klinik und Reha, clean und besonnen und erfuhr erstmals seine Entwicklung aus Sicht des Vaters. Die (zufällig) gemeinsame Hausärztin nannte das Verhältnis zwischen Tom zu seiner Mutter „toxisch“ und half ihm zu einem Klinikaufenthalt und einer anschließenden Reha mehrere hundert Kilometer entfernt.
Dort verstarb er kurz nach seinem 26. Geburtstag (nach einer Blutuntersuchung clean) Mitte 2024, wohl an multiplem Organversagen nach seiner multitoxischen Drogenkarriere.
Wie hätten die leidvollen Jahre für Tom verhindert werden können?
Zwei Gutachten beschrieben grob falsch die Wohnungssituationen der Eltern, waren mit Textbausteinen aufgebläht, einseitig mütterorientiert und wurden vom Vater vor Gericht „zerrissen“. Trotzdem wurde ihnen vom Gericht gefolgt. Erst nach Jahren wurde ein Gutachter berufen, der eine einvernehmliche Umgangsregelung erreichen sollte– und nicht mehr. Er benutzte hierfür erfolgreich aufklärende Einzelgespräche. Nach deren Einführung blieben die strittigen Eltern wieder alleine.
Wie im afrikanischen Dorf könnten Gutachter oder Psychologen über mehrere Jahre als Ansprechpartner für strittige Eltern eingesetzt werden. Neben der Beachtung persönlicher Empfindlichkeiten und Glaubenssätzen können diese Damen und Herren Erziehungshilfen bieten, wissenschaftliche Erkenntnisse unterschiedlicher Umgangsformen vorschlagen und Fehlentwicklungen eines Kindes rechtzeitig erkennen. Die Praxis der Gutachtenerstellung im familialen Verfahren muss dringend überdacht und neu konzipiert werden.
Kulturell tief verwurzelte Überzeugungen in der Gesellschaft, wie, dass Kleinkinder zur Mutter gehören, müssen aufgebrochen werden. Eine zwischen den Eltern geteilte Elternzeit ist dafür ein wichtiger Schritt. Datenschutzregelungen zwischen Polizei, Jugendamt und Ärzten verhinderten eine umfassende Darstellung der oben skizzierten Verhältnisse.
Gerichte und Jugendämter müssen verinnerlichen, dass ihnen durch ihr Einschreiten eine Mitverantwortung für die Kinder aufgebürdet wird. Verantwortung kann jedoch nur erfolgreich wahrgenommen werden, wenn über Jahre immer wieder zumindest kurze Kontakte ermöglicht und wahrgenommen werden.
Bevor ein Gericht im Rahmen einer Trennung mit Kind einen Beschluss fällt, müssten die Scheidungswilligen mit vom Staat bezahlten Fachleuten eine Scheidungsvereinbarung schriftlich erarbeiten. Hierzu müssten Rechtsanwälte, Steuerberater, Psychologen, Moderatoren und sonstige Stellen kontaktiert werden. Neben einer Vermögensaufteilung und Unterhaltsregelungen sind hier Regelungen zum Kindeswohl nach dem Zerbrechen der Beziehung der Eltern hervorzuheben. Die verwaltungstechnischen Kosten der Scheidung sind dann minimal. („Dänisches Scheidungsrecht“).
Regelungen über das Sorge- und Aufenthaltsbestimmungsrecht dürfen frühestens zum Zeitpunkt der Trennung erfolgen. Viele jahrelange Streitigkeiten vor Gericht, mit psychischen Verletzungen beider Eltern und den Kindern, Ängsten und Existenzsorgen, könnten verringert werden – und damit nicht nur eine Reduzierung der psychischen, gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen negativen Folgen, sondern auch eine Entlastung der Sozialkassen.
Kennen Sie den Fahrplan von Hamburg HH nach Brunsbüttel oder München HH nach Straubing? Nicht? Genauso geht es allen Eltern: nicht örtlich, sondern nur zeitlich sind sie direkt betroffen. Das Scheidungsrecht ist fundamental, kulturell und werteorientiert.
Könnten wir nicht das Vorbild aus Irland nutzen? Dort konnte die Politik sich nicht über ein Gesetz über den Schwangerschaftsabbruch oder über gleichgeschlechtliche Ehen einigen. Bei einer unvorbereiteten Volksabstimmung hätten rhetorisch geschickte Populisten die Bevölkerung aufgehetzt und gespalten. (Siehe Frankreich, England, USA…). Man führte Bürgerräte ein, in denen faktenorientierte und offene Diskussionen stetig die Öffentlichkeit über die Themen sensibilisierte. Wäre das nicht etwas?
Ich definiere das Ziel so:
Der Staat muss sich vom gefühlten Etatismus [siehe Wiki] entfernen und als umfassender Dienstleister Menschen in den schwierigen und bedrohlichen Lebensphasen einer Trennung so unterstützen, dass sie ihren Verantwortlichkeiten gegenüber allen Familienmitgliedern langfristig mit selbstbestimmten Lösungen innerhalb ihrer Möglichkeiten gerecht werden können.
Der erste Schritt könnte die Erarbeitung eines Konzeptes im obigen Sinne sein, dabei Vor- und Nachteile beschreiben und Anwendungsgrenzen aufzeigen. Bestehende Strukturen (wie das JA) sind mit einzubinden. In diese Vorleistung sollten Betroffenen-Organisationen wie der VAfK und ähnliche Vereine eingebunden werden.
Gemeinsam sind die Fachgremien / Fachausschüsse aller demokratischen Parteien zu einer Stellungnahme aufzufordern. Aufgeschlossene Politiker*innen, die in ihrer Partei in der Minderheit sind, sollten direkt angeschrieben werden. Wir, die Betroffenen, müssen diese Personen stützen, um in ihrer Partei das Konzept in das Parteiprogramm aufzunehmen. Könnten Sie Bürgerräte initiieren? Auch überparteiliche Bewegungen, ideologiefrei, könnten sich entwickeln. Die Hybris vieler Politiker*innen muss angegriffen werden, vorhandene Ideologien, getarnt als Interessenvertretungen zum Wohle des Kindes, entlarvt werden. Somit könnten Menschen im Scheidungsprozess und danach vom „deutschen Dorf“ Dienstleistungen erhalten, um selbstbestimmte Wege entwickeln zu können.
Dieser Text wurde in Kooperation mit dem betroffenen Vater erstellt.
Werner schrieb einen Abschiedsbrief zum Tod seines Sohnes, der auch eigentlich gedacht war, bei der Beerdigung verlesen zu werden.
Dazu kam es nicht.
Werner hat diesen Abschiedsbrief anonymisiert und mir zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt.
Ich bin sehr bewegt und weiß, dass dadurch der Tod von Tom einen Nachklang haben wird, der diesem Menschen im Nachhinein den Wert beimisst, den jeder Mensch haben sollte, auch dann, wenn er im realen Leben durch alle Raster fällt.
Alle im Interesse einer Anonymisierung geänderten Namen oder Orte sind kursiv dargestellt.
Abschiedsbrief an meinen Sohn
Tom,
erinnerst Du Dich? Vor Corona standen wir am Blumenbeet in Jena und ich bat Dich um Verzeihung für das, was damals in deiner Jugendzeit geschah. Du überschrittest meine psychischen und physischen Kräfte. Die vielen guten Stunden mit deinem Betreuer, Herrn Müller, genügten uns beiden nicht. Meine Schwäche, mein Versagen, das hatte Deine junge Seele verletzt. Du konntest mir nicht verzeihen.
Die letzten Jahre sahen wir uns nur sporadisch, so ein paar Mal im Jahr für ein, zwei Stunden. Ich drängte mich nicht auf. In Jena schnitten wir die Hecke, gemeinsam mit Fritz reparierten wir einen Rollladen. Über dein Befinden hattest Du mir etwas vorgespielt, wie Du mir später gesagt hast. Im August/September letzten Jahres wurde der Kontakt wieder intensiver. Wir machten eine Radtour zum Königsbrunnen bei Wöllnitz, auch in Erinnerung an glückliche Tage in deiner Kindheit bei mir und Bello. Dann fiel die geplante 40-Kilometer-Tour für den Montag ins Wasser, da dein Rad defekt war.
Auch gingen wir in Lichtenhain spazieren. Gleich zu Beginn an den Feldern wurdest Du laut. „Du weißt gar nicht, wann und wo ich erstmals harte Drogen nahm, Du weißt gar nicht, wann und wo ich kriminell wurde!“ Und dann hast Du laut geschrien: „Du weißt gar nicht, was ich durchgemacht habe!“ Ich war beschämt, hilflos. Es wurde ein langer Spaziergang. Hatte ich all die Jahre zu selten zum Mond aufgeschaut?
Und dann kamen die schrecklichen Vorfälle zwischen dem achten und neunten des Monats, als die teuflischen Drogen dich beherrschten. Die Aufnahme in die Suchtklinik , dann in der abseits gelegenen Reha Obermühle. Von dort hast Du mir mehr berichtet und ich spürte, wie stark Dich das alles belastete. Bei meinem Besuch gingen wir durch den schönen Wald, blickten über offene Felder, wo Du mit dem Rad unterwegs gewesen warst, und wir sprachen, sprachen, sprachen.
Am 13. wurdest Du von der Reha rausgeworfen, obdachlos, ohne ein allgemeines Faltblatt der Reha über deinen rechtlichen Status, ohne Hinweise, welche Schritte Du tun musst, ohne Angabe von Ansprechstellen.
Ich holte Dich ab und zu Hause zeigtest Du mir gleich deine Grenzen. Deine Schwierigkeiten beim Einschlafen, das notwendige Medikament Quetiapin, dein Heißhunger in der Nacht, dein Schlaf auf dem Sofa im Wohnzimmer bis zur Mittagszeit. Ich achtete deine Grenzen, ließ Dir die Ruhe. Und ich nannte Dir meine Grenzen, wiederholte „Ich werde nicht koabhängig!“ und ergänzte „ Ich werde mit Dir reden!“ – und ich bin sicher, dass Du meine Ängste dabei bemerkt hast.
Remember: Today is the first day of the rest of your new life.
Mit den Nachrichten aus der Ukraine, aus Gaza, dem Klimawandel, mein bescheidenes politisches Engagement, mein Buch, damit weckte ich bei Dir einen zaghaften Einblick in meine Welt. Neben kurzen Statements von mir gab es auch längere Gespräche, über die Demokratie, über Werte, wie man fake News und Verschwörungstheorien mit der Analogie von „Russels Teekanne“ erkennt, diese auch Familien gefährden oder zerstören. Erstaunt warst Du über eine Graphik der Bevölkerungsentwicklung. Und über die Freiheit. Ach, du süße verführerische Freiheit, du musst erlernt, erfahren werden, damit innere Stärke entstehen kann: Jetzt, Tom, hattest Du verstanden, dass nur Du allein für dich verantwortlich bist.
Und wir schauten Filme an, deine und meine. Darunter „Jakobowsky und der Oberst“.
Jakobowsky, der verfolgte Jude, immer voll Hoffnung, er, mit seinen zwei Möglichkeiten, klug, erfindungsreich und so liebenswert. Der Oberst, stark, machtvoll, und das Wichtigste war ihm seine Ehre, und für ihn gab es immer nur eine Möglichkeit. Im Film verlor er die Ehre, wurde ein Häufchen Elend, aber mit der Hilfe von Jakobowsky kamen beide glücklich davon.
Ich griff dies auf und sagte Dir, dass in jedem Menschen ein Jakobowsky und ein Oberst stecken, und dass sie sich gegenseitig brauchen. Und dass es viele Teile in jedem Menschen gibt. Und ich merkte, dass dies für mich eine Sprache mit Dir sein könnte. Wie nenne ich die Gestapo und SS in deinem Kopf? Der Zerstörer, der Blockierer, der Lügenbaron – denn jeder belügt sich selbst am meisten.
So konnte ich, ohne dich zu verletzen, mit Dir reden: „Aha, das war wieder dein Ablenker oder der Blockierer“. Auf YouTube zeigte ich Dir Hans Albers auf der Kanonenkugel. Ich sagte Dir, die gefährliche Kanonenkugel in deinem Kopf musst Du zertrümmern, damit Münchhausen auf den Boden fällt und, so formuliere ich es jetzt, der Lügenbaron die in der Evolution entwickelte angemessene Aufgabe erfüllen kann.
Und ich wollte dein „Ich“ öffnen und sagte, der Blockierer verhindert es. Die von mir gewünschte Reha „Siegen“ nennt das „ich“ den „Prinzen“, ich gab Deinem „Ich“ den Namen „Wurzel“. Warum nur? Ach ja, vor 30, 40 Jahren in einer Doku eines südamerikanischen Künstlers: „Wir müssen unseren Kindern eine Wurzel und Flügel geben“.
Im Januar, auf dem Balkon zum Parkplatz, sagte ich Dir, dass deine Wurzel die Wurzel einer Eiche ist, die stark, groß, alt wird und jedem Wind und Wetter trotzt. Daher beschütze deinen Gärtner, sagte ich, der das zarte Pflänzchen pflegt und gedeihen lässt.
Herrmann Hesse schreibt:
„Ins eigene Wesen müssen wir,
Vorsichtige Gärtner, lauschen,
Bis von dort mit Blumenangesichtern
Neue Freuden wachsen, neue Kräfte.
Haben Jakobowsky und der Oberst mit deinen Dämonen gekämpft, deinen Gärtner beschützt, als Du stundenlang nachdenklich auf dem Balkon gesessen bist?
Am siebten des Monats hast Du Dir in Jena auf einmal vier Backenzähne ziehen lassen. Ich kaufte Dir vorher noch Trinkhalme aus Metall. Du hast sie nicht benützt, trotz stark geschwollenen Backen – und ein Abend ohne Gespräche. In der neuen Reha in Eggstätt hast Du selbst einen Zahnarzt gesucht und eine professionelle Zahnreinigung machen lassen. Der erste Termin für die so vielen noch notwendigen Zahnbehandlungen war geplant. Du bist selbständig geworden, hattest für Dich selbst Verantwortung übernommen!
Und so habe ich Dich nach wenigen Wochen schließlich als Erwachsenen kennenlernen dürfen: Im Innern zerrissen und leidend, anderseits emphatisch und aufmerksam. Du hast köstlich gekocht, zu Weihnachten dein berühmtes Steak mit lecker Bratkartoffeln. Du warst sehr klug, analytisch, relativierend und technisch versiert. Erinnerst Du dich, wie Du meinen Staubsauger auseinander nahmst, um ihn gründlicher reinigen zu können? Wie hilfsbereit Du warst, wie wir uns abstimmten, wer was wo zum Essen einkauft?
Als ich den Strauch vor der Terrasse rausreißen wollte, da hast Du genau wissen wollen, wie wir es machen, wie lange es dauert, Du wolltest genau planen, so dass Du dich darauf vorbereiten konntest. Genau wie in deinem Leben: Wie oft hast Du mir gesagt, dass Du einen Plan brauchst, wie es weiter geht. Hattest Du mich begriffen, einen Schritt nach dem anderen zu gehen und immer nach weiteren Möglichkeiten zu suchen?
Wir wussten beide, dass der anstrengende, doch sehr friedvolle, intensive Aufenthalt im Wartesaal des Bahnhofes bei mir in Jena sich zum Ende neigte. Die Abfahrtszeit war nahe. Mit der Einweisung deiner Hausärztin in die Klinik nördlich vom Chiemsee wolltest Du räumlichen Abstand von zu Hause erreichen. Von dort wähltest Du die Reha in Eggstätt. Bei deiner Abfahrt umarmten wir uns, so, wie es in den letzten Monaten zur Gewohnheit geworden war. Und ich sagte zu Dir: „Floskeln, wie „fahr vorsichtig“, „pass auf dich auf“ und andere, die brauchen wir nicht. Wir wissen, was wir uns gegenseitig wünschen.“ Und Du hast zustimmend genickt.
Weißt Du, nachdem Du von Jena dann fort warst, da hast Du mir sofort gefehlt. Wir konnten uns aufeinander verlassen, wir waren ein Team. Und nicht nur einmal sagte ich zu Dir: „Du bist ein ganz toller Mensch“. Und war dies früher ein Satz, der dich aufbauen sollte, so kam er in dieser Zeit aus ganzem Herzen: „Du bist ein ganz toller Mensch!“
Einen Tag vor deinem Geburtstag kam ich am Vormittag in der Reha bei Eggstätt an. Ich brachte Dir dein Rad, den Fernseher und viele weitere Sachen. Du hast einen Stellplatz nebenan beim Bauern besorgt, wo Du von der Reha durch ein Gatter direkt zu meinem Wohnmobil kommen konntest. Nach dem Auspacken brachtest Du mir ein Geschenk: den IQOS Verdampfer und drei Schachtel zugehörige Zigaretten. Ich hatte Dir noch von Ulrike erzählt, dass damit bei ihr wesentlich bessere Blutwerte erreicht wurden. Einen selbstgemachten Aschenbecher wolltest Du mir lieber nicht geben, da ich ja mit dem Rauchen generell wieder aufhören will.
Sechs Tage nach deinem Tod weckte mich wie üblich der Wecker. Und urplötzlich, noch im Bett, schoss mir ein Vorfall aus meinen eigenen Kindertagen mit meinem Vater durch den Kopf. Ich begriff: Du hast mir nicht nur verziehen, nein, mit dem Geschenk hast Du mir Deine Liebe gezeigt. Ich schluchzte und weinte weit über eine Stunde lang.
Am selben Abend, mit dem Perspektivwechsel zu meiner eigenen Kindheit, erkannte ich noch mehr: Du hast mich mit diesem Geschenk unzweifelhaft als deinen Papa wahrgenommen, deine andere Wurzel. Meine vielen Jahre des Bangens, der Hoffnungslosigkeiten und Hoffnungen, des Verzweifelns, der Ängste, sie waren vorbei. Du warst wieder da! Konnte ich Dir an deinem Geburtstag zeigen, wie sehr ich Dich liebe?
Mir gehen jetzt Worte durch den Kopf, über die ich mit dem klügsten Menschen der Welt vor Jahren sprach, den ich je treffen durfte: „Vergeben und Verzeihen“. Und das gilt über Generationen hinweg. Mutti, Papa, ich verzeihe euch, und ich bitte euch, vergibt ihr auch mir.
Lieber Gott, ich danke Dir, dass ich für meinen Sohn in seinen letzten Monaten da sein durfte und Du, lieber Gott, ihn mir wieder geschenkt hast!
Wir verbrachten zwei unbeschwerte herrliche Tage in Eggstätt. Du hattest eine Radtour ausgetüftelt, zu den Badeseen, an denen wir Schwäne beobachteten, und die mitgebrachten Kebab aßen. Am Abend saßen wir im Freien eines amerikanischen Restaurants. Die Einrichtung erinnerte dich an den Film „Pulp Fiction“, und Du bestelltest Dir den besten Burger. An deinem Geburtstag fuhren wir mit dem Auto, da Platzregen angesagt war, der uns dann auch im Biergarten erwischte. Im Regen liefen wir schnell zurück zu deinem Auto.
Abends, nach dem Screening, kamst Du zu mir und brachtest das kalte halbe Hähnchen für mich mit, das zum Mittagessen für dich bestimmt war. Du hast an mein Wohlbefinden gedacht! Ach, diese so wichtigen, kleinen Gesten!
Ich machte noch zwei Selfies. Aus meinem Leben erzählte ich Dir schöne Ereignisse. Du solltest wissen, dass es im Leben Glücksmomente gibt, die das Leben doch so lebenswert machen. Und ich fügte hinzu, ganz unbedarft, „na ja, der Erinnerungsoptimismus“. Und Du sagtest: „Das Wort kenne ich“ und hast es mir erklärt. Ich verstand. Und für ein, zwei Sekunden stieg eine unsägliche Angst in mir auf: Nein, nein, nein!
Vor dem Abschied sagte ich Dir noch, wie so oft in den vielen Jahren: „Denk an den Mond!“. Und Du hast geantwortet: „Ja, ich weiß“. Ein Zucken ging um deine Lippen. Weißt Du noch, wie unser besonderer Mond entstand? Als Du ein kleines Kind warst und wir uns mehrere Tage nicht sahen, dann schautest Du alleine und ich weit weg von Dir zum Mond, und dann dachten wir aneinander und gaben uns gegenseitig Kraft.
Zum Abschied umarmten wir uns. Und da, tatsächlich, spürte ich deinen Arm auf meinem Rücken, wie Du mich an dich gedrückt hast. Wir blieben still, keine Floskel, keine Worte, mir kamen die Tränen. Du hast es gespürt. Du gingst. Ich nahm die Brille ab, versuchte die Tränen abzuwischen, sah in deine Richtung. Du warst zehn, fünfzehn Meter entfernt, drehtest dich um. Unser letzter Blick……
Am Montag vor deinem Tod, nach zwei Telefonaten, hast Du mir per WhatsApp den Bescheid über den Entzug deines Führerscheins geschickt und geschrieben: „Bin sprachlos. Da steht der ganze Suchtverlauf drin.“
Für Mittwoch der darauffolgenden Woche hattest Du den Termin bei der Gutachterin wegen der Straftat der Bedrohung. Die Zugfahrkarte schickte ich Dir per Mail. Um 18 Uhr 23 hast Du mir geschrieben: „Drucken hat geklappt.“ Meine Antwort: der erhobene Daumen. Unser letzter Kontakt.
Wir werden nie, nie etwas über deine letzten Gedanken, deine letzten Gefühle erfahren. Das bleibt uns für immer verborgen. Und jede öffentliche Spekulation darüber verbietet sich.
Am zweiten Donnerstag im Juli nahm ich von Dir in Eggstätt Abschied. In der Reha erhielt ich drei Schalen, die Du selbst gefertigt hast, darunter wohl auch der Aschenbecher. Man kannte Dich als einen sehr höflichen, hilfsbereiten und offenen Menschen. Ich wurde zum Ort der Erinnerung geführt. Man hat für Dich einen Baum gepflanzt, darunter viele bemalte und beschriebene Steine, gefertigt von deinen Mitpatienten. Am Baum hängen, in Folie eingeschweißt, ein Gedicht, ein kleiner Engel und ein Segelboot. Und, auf hellblauem Papier steht, in blasser, rötlicher Farbe geschrieben, mit den Initialen R.I.P.: „Du warst ein sehr toller Mensch“.
Lieber Lügenbaron, werde der Aufgabe gerecht, die Dir Gott mit seiner Evolution zugewiesen hat. Arbeite mit Jakobowsky und der übrigen Mannschaft angemessen zusammen, so dass jeder der Anwesenden ein befreiendes stabiles Narrativ der Geschehnisse bald sein Eigen nennen kann.
Lieber Gott, beschere jedem hier Anwesenden die Kraft und die Fähigkeit zu trauern, sich selbst zu verzeihen und beschenke uns alle weiterhin mit den so wichtigen Glücksmomenten, die unser Leben so lebenswert machen.
An meiner Fotowand hängt dein Bild ganz oben. Darunter das Gedicht „Manchmal“ von Herrmann Hesse, gemalt von Gerd. Daneben dein Profilfoto als kleiner Junge. Auf die leuchtend roten Farben des Abendhimmels schrieb ich in Gelb das Gedicht „Stufen“. Sprachen oder diskutierten wir miteinander, und fand ich es passend, gingen wir zur Fotowand und ich las Dir ausgewählte Zeilen vor. Hast Du ab und an auch selbst gelesen, begriffen?
Hesse schreibt:
„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne……“
Auch für Dich, Tom, ist dein Tod ein neuer Anfang. Werde glücklich in der anderen, friedvollen und schönen Welt. Und wenn ich auf den Mond schaue, ja dann, ja dann, dann sind wir wieder zusammen.
Dein Papa
Bemerkung:
Der Abschiedsbrief wurde direkt innerhalb drei, vier Tagen nach dem Tod von Tom von mir verfasst und war ein wichtiger Schritt in meiner sehr emotionalen Trauerarbeit. Ergänzt habe ich ihn später um die Erlebnisse bei meinem Abschied von Tom in Eggstätt. Der Brief sollte zur Beerdigung vorgelesen werden, war jedoch hierfür zu lang. Ich übergab ihn an Familienmitglieder, auch mütterlicherseits, und im Freundeskreis. An seinem Todestag war Neumond.
Eine Einstellung in einem Forum dazu:
„Genau so macht es eine Mutter aus … mit ihren Kindern 25, 21 und 15 von Anfang an: allen drei Kindern den Vater verweigern. 25-Jährige schwer drogenabhängig, 21-Jährige drogenabhängig, zig Mal in psychiatrischer Behandlung und Einweisungen nur von der Mutter, ohne den sorgeberechtigten Vater zu informieren, 15-Jähriger äußerte sich schon vor Jahren, wenn er groß ist, werde er seine Mutter erschießen. Gerichte, Jugendamt, OLG – alle schauen nur tatenlos zu …“